Jedes Jahr am Dia de los Muertos kehren die Seelen der Verstorbenen für wenige Stunden ins Diesseits zurück. Sie werden von den Familien mit Paraden, Familienaltären, Kunstwerken und geschmückten Gräbern willkommen geheißen. Getrauert wird heute nicht. Die Festlichkeiten sind im Grunde genommem eine große Familienfeier mit reichlich Speis und Trank. Der Tod wird gefeiert, nicht gefürchtet. Daher könnte der „Tag der Toten“ auch „Feier der Toten“ genannt werden. Die fast 2500 Jahr alte Tradition kennt keine Trennung zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Selbst die Missionierung durch die katholischen Spanier hat es nicht geschafft, diesen außergewöhnlichen Brauch auszurotten. Man hat sich arrangiert. Immerhin gibt es zwischen der Vorstellung der Mexikaner und der der katholischen Religion einige Parallen. Auch im Christentum glaubt man an ein Leben nach dem Tod. So ließ sich der christliche Feiertag Allerheiligen mit dem Dia de los Muertos einigermaßen vereinbaren. Mit den Jahrhunderten vermischten sich beide Traditionen, so dass am Dia de los Muertos auch einige christlichen Symbole (bspw. Kreuze und Engel) eine Rolle spielen. Auch werden einige Utensilien, mit denen später die Gräber geschmückt werden, vorab in einer Kirche gesegnet. Im Prinzip ist die gesamte Feierlichkeit ein schönes Beispiel für eine gelungene religiöse und kulturelle Integration.
Natürlich bin ich mit einer gewissen Erwartungshaltung nach Todos Santos gereist, um den Tag der Toten, den Dia del los Muertos, einmal hautnah zu erleben. Ich habe mich im Vorfeld in das Thema eingelesen, habe mir Reportagen angesehen und kenne die Bilder aus Mexico City und Oaxaca. Natürlich war mir bewusst, dass man ein Spektakel dieser Dimension, wie es in den Metropolen stattfindet, kaum in einer Ortschaft mit gerade einmal 5000 Einwohnern erwarten kann. Dennoch versprach die Stadt (oder ihre Marketingabteilung?) ein mehrere Tage andauerndes umfangreiches Programm mit Paraden, u.a. sogar eine Hundekostüm-Parade, einer Prozession zum Friedhof, Kostüm-und Photowettbewerben mit feierlichen Preisverleihungen, Livemusik und kulinarische Highlights auf dem Plaza Pueblo, dem großen Platz vor der Kirche. Das klang alles sehr vielversprechend und nach einer Riesenparty. Wir waren auf jeden Fall sehr gespannt.
31.Oktober 2017
Gestern Abend haben wir Todos Santos erreicht. Heute wollen wir die Altstadt erkunden und die Aufbauten für das große Fest beobachten. Doch davon keine Spur. Der Plaza Pueblo sieht noch genau so aus wie gestern, als wir uns auf dem Weg zu Unterkunft einen ersten Eindruck verschaffen konnten.

Darüber haben wir uns allerdings keine weiteren Gedanken gemacht und haben das getan was man eben macht, um einen Ort besser kennenzulernen: Plan- und ziellos durch die Gassen laufen, spontane Blicke in das ein oder andere Geschäft werfen, in diversen Cafés und Bars die frische selbstgemachte Limonade (und/oder ein paar Mojitos) testen, ein paar Tacos naschen, um sich ein erstes Bild von der Stadt zu machen.

Am späten Nachmittag peilen wir die Catrina-Bar an, um uns noch ein gekühltes Getränk zu genehmigen. An der nächsten Straßenecke bildet sich gerade eine kleine Menschentraube, weiß gekleidet. Irgendwann kommt auch ein Pfarrer hinzu. Über die Lautsprecher, welche auf der Ladefläche eines Pickups montiert wurden, ertönt ein gebetsartiger Sprechgesang. Irgendwann erkennen wir das Ave Maria in spanischer Sprache. Einige der Mexikaner halten einen Rosenkranz in der Hand. Die Menschentraube setzt sich in Richtung Friedhof in Bewegung. Die erste Prozession beginnt. In der Nacht zum 1. November wird den verstorben Kindern gedacht, den Angelitos. Die Unschuld und Reinheit werden symbolisiert durch die weiße Kleidung.
1. November 2017
Wir machen uns erst am späten Nachmittag auf dem Weg in die Altstadt. Der Plaza Pueblo hat ein kleines Deko Update bekommen.

Sand-Kunstwerke haben eine besondere Bedeutung im mexikanischen Brauchtum. Die Tradition entstammt ursprünglich der 9-tätigen Totenwache. In dieser Zeit fertigt die Familie des/der Verstorbenen ein farbiges Sandkunstwerk an. Nach und nach wurde diese Art der Kunst auch am Dia de los Muertos übernommen. Auch die Sandbilder werden gern mit vielen orangen Tagetesblüten geschmückt.

Am Kopf des Plaza Pueblo wurde ein großer dreistufiger Altar aufgebaut. Unzählige Kerzen beleuchten sanft die einzelnen darauf platzierten Gegenstände und tauchen den gesamten Aufbau in ein mystisches Licht.

Die Altäre sollen den Verstorbenen dabei helfen, den Weg zurück zu finden, um sich dort am Dias de los Muertos an den irdischen Genüssen erfreuen zu können.

Ein Altar kann zwei (Himmel und Erde), drei (Himmel, Erde und Fegefeuer) oder sieben Stufen (sieben Stufen bis zum Himmel = „Mictlan“) besitzen. Die unterste Stufe stellt jeweils die Erde, die oberste den Himmel dar. Alle auf dem Altar platzierten Gegenstände haben eine Bedeutung. Einige sind der Tradition geschuldet, andere haben einen direkten persönlichen Bezug zum Verstorbenen. Auf der unteren Erdstufe findet man die Gegenstände, Speisen und Getränke, die der Verstorbenen zu Lebzeiten besonders mochte. Das kann Obst und Schokolade, aber auch Schnaps oder ein bestimmtes Gericht sein, welches extra für diesen Tag für den Verstorbenen zubereitet wurde.




Die Altäre für die Verstorbenen sind etwas sehr intimes und werden für gewöhnlich zu Hause aufgebaut. Es ist als Außenstehender schwierig, Zugang zu diesen zu bekommen. Daher fand ich die Idee schön, auch öffentliche Altäre in der Stadt aufzubauen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie ein solcher Altar aussehen könnte.




Kopal ist eine Art Weihrauch, gewonnen aus dem Harz des Weisgummibaums. In kleinen Schalen werden die Harzstückchen verbrannt und verbreiten diesen unverkennbaren Duft.



Pan de Muerto. Ein Brot, welches ausschließlich zum Dia de los Muertos gebacken wird. Es werden weder bestimmten Zutaten benötigt, noch eine bestimmte Zubereitungsart angewendet. Es ist die Form, welches es zu etwas Besonderem macht. Der runde Laib mit diesem speziellen Muster deutet einen Schädel mit gekreuzten Knochen an, wie man ihn von Piratenflaggen kennt. Außerdem symbolisiert das Brot die Eucharistie.




2. November 2017
Am 2. November machen wir uns am frühen Nachmittag auf den Weg zum Kulturzentrum, welches ebenfalls in der Altstadt liegt. Dort wird seit 10:00 Uhr an einem Dia de los Muertos- Mural gearbeitet.

Außerdem schauen wir uns auf dem Friedhof um. Der Weg ist weit (zumindest zieht er sich) und führt durch die weniger hübschen Ecken von Todos Santos. Die Häuser wirken teilweise improvisiert erbaut. Die meisten Mexikaner, denen wir begegnen, grüßen, einige schauen uns eher argwöhnisch an. Mir wird klar, dass auch ein Pueblo Magico zu gewissen Teilen hergerichtet wird, um den Touristen und Reisenden ein gewisses Bild zu vermitteln. So ist zumindest mein Eindruck.

Der Friedhof ist offenbar unterteilt in ein Erwachsenen- und eine Kinderseite. Bei diesem Gedanken muss ich erst einmal tief Luft holen. Auf der Kinderseite sind viele Gräber besonders bunt gestaltet. Ein Bauwerk, eine kleine violette Burg, fällt uns sofort ins Auge.

Bei näherer Betrachtung fällt uns auf, dass das verstorbene Mädchen, Daniela, zum Zeitpunkt ihres Todes gerade einmal 15 Jahre alt war. Das Grab enthält eine Art Vitrine, bestückt mit künstlichen Blüten, Photos des Mädchens und Kuscheltieren. Plötzlich steht ein Mann neben uns. Er erzählt, dass er Danielas Vater ist. Spontan habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dieses Grab wie eine Sehenswürdigkeit beäugt zu haben. Doch dann erzählt der Mann: Über seine Tochter. Er erzählt, dass sie das Meer liebt, dass das Fahrrad, welches am Grabstein lehnt zwar nicht ihres ist, aber irgendwann von einer Freundin gebracht wurde und dass viele ihrer Freunde sie besucht haben in den letzten zwei Tagen. Es fällt mir auf, dass er nicht in der Vergangenheitsform spricht. Seine Tochter ist noch immer da, nur woanders. Ich höre auch keine Trauer in seiner Stimme. Vielmehr spürt man seinen Stolz. Seinen Stolz gegenüber seiner Tochter. Und seinen Stolz, dass er ihr diese hübsche Burg gebaut hat. Vielleicht war er sogar stolz darüber darauf, dass wir gerade Danielas Grabstelle ansteuerten, dass sein Bauwerk alles überragt auf diesem Friedhof. Daniela hatte ihm gegenüber irgendwann erwähnt, dass sie, sollte sie einmal sterben, ein Schloss möchte, bloß kein unauffälliges simples Grabmal. Ihr Vater hat ihr diesen Wunsch erfüllt. Als wir den Friedhof wieder verlassen, gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Seltsamerweise bin ich trotz des Gesprächs mit Danielas Vater nicht melancholisch, oder vielleicht gerade deshalb…? Ich denke, dass die Begenung mit Danielas Vater die Einstellung der Mexikaner gegenüber dem Tod recht gut widerspiegelt. Ich werde versuchen, dies in Zukunft für mich zu verinnerlichen. Zumindest ein bisschen davon.
Der lange Weg zurück zur Altstadt bot jedenfalls genug Zeit, die Gedanken zu sortieren. Wir freuen uns auf das, was an diesem Abend noch auf uns wartet. Wir laufen zur Straße, auf der die Parade stattfinden soll.
„Die Parade“ 🙂 Ich muss noch immer schmunzeln, wenn ich an diese Parade denken muss. Als Kind des Rheinlands bin ich große und kilometerlange Karnevalsumzüge gewöhnt. An der Hauptstraße angekommen stellen wir fest, dass nicht einmal die Straße abgesperrt wurde. Ich frage mich, wo die Zugaufstellung wohl stattfindet. Irgendwann, 30 Minuten nachdem die Parade eigentlich hätte stattfinden sollen tauchen plötzlich zwei Bier-Bikes auf.

Hübsch beleuchtet, besetzt mit ein paar als Catrinas geschminkten Mädels und als Skull geschminkten Herren. Aus den Lautsprechern tönt laut Gute-Laune-Musik. Dazu laufen ein paar Leute herum, die große bunte Pappfiguren mit sich führen. Das war die Parade.Ein paar neugierige Menschen versammeln sich. Ca. 20-30 Personen schauen dem Ganzen zu. Nachdem die „Parade“, welche die Hauptstraße (ca. 500m lang) zwei mal hoch und runter wandert, geht es gemeinsam mit allen Interessierten zum Plaza Pueblo.

Keine Partystimmung auf dem Plaza Pueblo. Die fehlt aber auch gar nicht. Kennt ihr diese besinnliche Stimmung, die manchmal auf den deutschen Weihnachtsmärkten herrscht? Die Atmosphäre bei brennenden Kerzen und der in der Luft liegende Geruch von Glühwein und Tannen? Vielleicht ziehe ich den Vergleich weil es sich einfach familiär anfühlte. Die Menschen hatten gute Laune, keine überschwängliche sondern die, die das Herz erwärmt. Oh Gott, das klingt total kitschig, ich weiß. Vielleicht ist mir auch das leckere Indio-Bier zu Kopf gestiegen! 😉 Vielleicht war es auch einfach so wie ich es schreibe…
Dann kamen die Bier-Bikes wieder. Begleitet von ihrer lauten Musik. Diese haben eigentlich einen besseren Namen verdient, denn es ging bei diesen Verkehrsmitteln nicht ums Bier-in-großen-Mengen-trinken, wie man es in europäischen Großstädten gewöhnt ist. Diese Vehikel waren doch tatsächlich eine Art Shuttle-Service, der uns bequem zum alten Friedhof brachte. Super Idee, die auch gut von den Gästen angenommen wurde.




Direkt hinter dem Eingangstor steht ein kleiner Baum, geschmückt mit einer Lichterkette. Wir schreiten durch den steinernen Torbogen und vor uns entfaltet sich ein Lichtermeer.


Ein paar Meter weiter vorne, direkt neben der Grenze zu den Grabplatten, sind trichterförmig ca. 100 Stühle aufgestellt. Davor wurde eine große Leinwand aufgebaut. Gleich wird ein Film gezeigt, ein mexikanischer Klassiker, so heißt es.

Klingt verrückt. Aber bedingt durch die lockere Atmosphäre, haben wir keinem Zeitpunkt zum Gefühl, dass die Nutzung dieses Friedhofs auf diese Art und Weise irgendwie makaber ist. Einige nehmen entspannt auf einem der Gräber Platz, andere spazieren zwischen den Grabsteinen umher und genießen die Atmosphäre.
3. November 2017
In den meisten anderen mexikanischen Orten wird Dia de los Muertos bis zum 2. November gefeiert. In Todos Santos gibt es auch am 3. November noch ein wenig Muertos-Programm. Eigentlich steht heute aber nicht viel Neues auf der Agenda.

Auch eine Parade gibt es wieder. Diese haben wir allerdings erst beim Einzug auf den Plaza Pueblo wahrgenommen. Zusätzlich sind jetzt noch eine handvoll überlebensgroße Papmaché-Skelett-Figuren dabei. Laut Programm stehen eigentlich noch die Hundekostüm-Parade und die Preisverleihung diverser Wettbewerbe an (s.o.). Beide Veranstaltungspunkte fallen (aus Zeitgründen?) offensichtlich einfach aus.


Ein Resumee
Die riesen Party blieb aus. Es war trotzdem oder gerade deshalb sehr schön. Ich finde, es war die richtige Entscheidung, dieses Fest in einer Stadt dieser Größenordnung zu erleben. Hätten wir eine ausgelassene Party bevorzugt, hätten wir auch in San Francisco bleiben können, um dort Halloween zu feiern. Doch das, was ich in Todos Santos kennenlernen durfte, manchmal ein wenig unorganisiert, wirkte echt und unverfälscht. Es war warm und familiär. Und es hat meine Gedanken angeregt. Gedanken über den Tod und das Leben. Über meine Einstellung beidem gegenüber und die Sichtweise anderer Mensche, die der Mexikaner. Ich möchte an der Stelle gar nicht weiter ausschweifen. Ich kann nur sagen, ich habe durch die vergangenen Tage ein wenig mehr zu mir selbst gefunden. Und das ist doch genau das was uns Reisende antreibt, oder? 😉
Vielen Dank für diesen tollen, ausführlichen Bericht! Mein Freund und ich sind gerade als Volunteers auf Weltreise (instagram.com/vagateers) und mein größter Traum ist es, einmal den Día de los Muertos mit zu erleben. Aber eben authentisch und nicht die große Touristenparty. Deswegen bin ich immernoch auf der Suche nach einem Ort, an dem ich diese Tage gerne verbringen möchte. Da wir gerade noch in den USA sind, haben wir leider nicht sooo viel Zeit, um bis Ende Oktober mit unserem Van im Süden Mexikos zu sein, wo dieser Brauch wohl noch mehr zelebriert wird als im Norden. Nun überlegen wir gerade, ob man den Tag der Toten auch in Baja California miterleben kann und dabei bin ich auf deinen Beitrag gestoßen. Was du beschreibst, klingt wirklich wunderbar und bei der Stelle mit dem Grab des kleinen Mädchens musste ich wirklich schlucken. So schön, was ihr erlebt habt!
Ganz liebe Grüße, Anja